Ich geh jetzt mein Gehirn neu kalibrieren ...
... warum hat die Natur über alle höheren Tiere regelmäßige Phasen der Bewusstlosigkeit verhängt, denen sie sich nicht entziehen können? Welche Funktion also erfüllt der Schlaf? Die Frage wird nicht einfacher dadurch, dass zwei grundverschiedene „Schläfe“ zu erklären sind, REM und NonREM. So viele physiologische und psychologische und pharmakologische Einzelheiten die Schlafforschung im letzten halben Jahrhundert zutage gefördert hat: Sie weiß es immer noch nicht, ahnt aber, dass sie des Rätsels Lösung nahe ist. Immerhin wurden einige der früheren Theorien widerlegt: etwa dass der Schlaf der Muskelentmüdung, der Energieeinsparung oder schlicht der Ruhigstellung diene. (Das vermutete Hypnotoxin, das Schlafgift, das die Muskeln müde mache, gibt es nicht; Herz- und Atmungsmuskeln arbeiten Tag wie Nacht. Das Gehirn ist das Organ mit dem höchsten Energieverbrauch. Auch schlafende Tiere sind in Gefahr.) Nichts davon ist mit der Tatsache vereinbar, dass der Schlaf eine genau strukturierte Folge aktiver Zustände des Gehirns ist. Des Rätsels Lösung muss im Gehirn selbst gesucht werden.
Eine aussichtsreichere psychophysiologische Theorie ist die, dass während des Schlafs Langzeiterinnerungen „konsolidiert“ (also befestigt) und in das Netzwerk der mentalen Repräsentationen eingebaut werden. Dass man im Schlaf lernen kann, hat sich dagegen als Märchen erwiesen. Experimentell belegt wurde aber unlängst, und zwar von einer Arbeitsgruppe um den Lübecker Neuroendokrinologen Ullrich Wagner, dass im Schlaf tatsächlich Einsichten gewonnen werden können. Die Berichte jener Genies, die behaupteten, auf die zündende Idee buchstäblich im Schlaf gestoßen zu sein – dem Chemiker August Kekulé etwa gab 1865 ein Traum von zwei ineinander verbissenen Schlangen die Struktur des Benzolrings ein – könnten somit durchaus wahr sein. Gerade unterbreitete der amerikanische Psychiater Jerome Siegel eine Theorie, die den Vorteil hat, im Labor überprüfbar und widerlegbar zu sein: Der NonREM-Schlaf diene der Zellreparatur (bei Schlafentzug treten bei Ratten Schäden an der Außenmembrane von Hirnzellen auf), REM (bei dem die Produktion einer Gruppe von Neurotransmittern, der Monoamine, eingestellt wird) verschaffe den Rezeptoren der Hirnzellen eine Erholungspause. Meine persönliche Lieblingstheorie ist die, dass der Schlaf der Kalibration des Gehirns dient: Die Tagesaktivität beansprucht einzelne Funktionen des Gehirns verschieden stark, und damit sich diese verschiedenen Aktivationen einzelner Funktionsbereiche nicht kumulieren, wird in den Tiefschlafphasen, da es im Gleichtakt schwingt, das Gehirn sozusagen auf null heruntergefahren und abgestimmt – um dann im Scheinleben der REM-Phasen ausprobiert zu werden, sicherheitshalber im Zustand der Handlungsunfähigkeit. Wie auch immer: Reparatur und Erholung des Gehirns, das dürfte die lebensnotwendige Funktion des nächtlichen Blackout sein.
Gefällt mir auch gut, diese Theorie aus dem Artikel übers Schlafen in der Zeit-Serie über das Leben in Deutschland.
Also, bis morgen dann ... gut Ding will Weile haben.
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